7. Standbeine. Spielbeine.
Perspektiven für Kultureinrichtungen der freien Szene
Im Nachgang der ersten Konferenz vom 5. Mai 2021 bildete sich eine Arbeitsgruppe, die für das o.g. Thema Handlungsempfehlungen erarbeitete und formulierte. Diese können Sie unter folgendem Link lesen:
Handlungsempfehlung der Arbeitsgruppe “Standbeine.Spielbeine.”
Alle Texte und Materialien zur Digitalkonferenz vom 5. Mai 2021 finden Sie ab hier:
Kultureinrichtungen der freien Szene sind Orte von Kunst- und Kulturaktivitäten, Produktionsstätten künstlerischer Entwicklung und Foren der Kulturellen Bildung sowie der der offenen Begegnung. Viele Einrichtungen sind fester Bestandteil der Kulturlandschaft vor Ort und in der Region. Einige von ihnen haben sich durch kontinuierliche Angebote wie durch flexible Veränderung der meist interdisziplinären Programme eine kommunale Förderung erarbeitet. So manche Einrichtung hat sich ein wirtschaftliches Standbein aufgebaut oder einen guten Status durch regelmäßig akquirierte Projektmittel erreicht.
Vor diesem Hintergrund haben sich die freien Kultureinrichtungen aufgemacht und den diversitätsorientierten Generationenwechsel angestrebt, die Digitalisierung in Angriff genommen und sich mit ihrem Publikum beschäftigt. Corona droht diese Entwicklungen jäh auf Anfang zu setzen. Diese und insbesondere innovative Kunsträume und neue Initiativen sind nicht krisenfest, zu unsicher die projektorientierten und nicht-pflichtigen Förderungen, zu niedrig die Bezahlung des Personals, zu schlecht die technische Infrastruktur.
Wie kann es gelingen, diesen Einrichtungen ihre Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit zu erhalten und sie gleichzeitig als vielgestaltige Struktur NRWs so zu unterstützen, dass Modernisierung, Verjüngung und Vernetzung innerhalb der gesamten Kulturszene zu mehr Stärke miteinander führt? Welche Disziplinen übergreifende Fördermodelle und Förderstrukturen befördern Erhalt und Entwicklungen statt Konkurrenzen?
Thesen
- Die Topographie des Kulturlebens ist auf die Innovationskraft und Produktivität der freien Szene angewiesen.
- Am Beispiel der freien Szene lassen sich Förderlogiken und Spartenabgrenzungen auf den Prüfstand stellen.
- Die bisherige Trennung von kommerzieller und nicht-kommerzieller Kunst und Kultur ist nicht mehr haltbar.
- Für die Entwicklung neuer Förderkonzepte ist eine interministerielle und ressortübergreifende Kooperation notwendig, ebenso eine gut vernetzte Zusammenarbeit von Bund, Land und Kommunen.
Johanna-Yasirra Kluhs
Kuratorische Leitung von Interkultur Ruhr, Essen
How to make common use of the ressources? Immer noch stehen sich die Freie Szene und ihre Einrichtungen auf eine merkwürdige Art und Weise gegenüber. Dabei hat sie Szene sich ja irgendwann einmal selbst eingerichtet. Ich habe zwei Ausgaben des Theaterfestivals Favoriten in Dortmund begleitet und mich dabei viel mit dessen Geschichte auseinandergesetzt. Es hat mal angefangen als Theaterzwang, als Zusammenschluss von Freien Künstler*innen, die fanden, dass das Theater auf der Straße gemacht werden muss. Und um nicht vereinzelt zu bleiben, vor allem in der Wahrnehmung nach außen, haben sie sich ein Label gegeben. So konnte man etwas gegen das kommunale Theater setzen, das ungerecht bevorteilt und seinem Auftrag, Theater für die Stadt zu machen, den Festivalinitiator*innen zu Folge nicht nachkam. Und so ging es los mit der Einrichtung. Heute ist das Festival ein etabliertes Forum der Darstellenden Künste und kämpft wie alle Einrichtungen mit Spannungen zwischen der Notwendigkeit zum Statuserhalt. Und dem Begehren nach Durchlässigkeit. Es ist zu einer – gewiss prekären – Institution geworden. Und Institutionen bestehen schnell aus Beton. Und in der Tat ist es auch wichtig, fest zu stehen. Stellen zu halten, Reputation, Ressourcen. Damit sie genutzt werden können. Paradox.
Und was ist die Freie Szene selbst? Ich möchte versuchen zu sprechen über die Idee der Szene selbst als Para-Einrichtung. Denn auch hier sind Strukturen geronnen und Kompetenzen gebildet. Innerhalb von wenigen Wochen, in komplexen sozialen Verhältnissen und mit oftmals geringen Mitteln werden öffentliche Güter produziert. Es herrscht oftmals eine große Durchlässigkeit zwischen persönlichen, politischen Ansprüchen und kulturellen Strategien. Zuweilen auch ein gewisser Bindungsunwille. Aber doch auch ein Berechtigungsgefühl in Sachen (öffentlicher) Förderung. Das könnte man auch als Abhängigkeit bezeichnen – denn ohne die errungenen und zugeteilten Ressourcen von außen geht nichts. Oder es bleibt das Ehrenamt, die idealistische Widmung als emanzipative Strategie. Gerade wenn es um kontinuierliche Arbeitsprozesse geht,
kann nur die persönliche Motivation den Mangel an struktureller Förderung ausgleichen. Und so stehen die Künstler*innen gezwungenermaßen vor den Häusern und kämpfen um Einlass.
Die Einrichtungen können nicht ohne die Szene und die Szene nicht ohne die Einrichtungen. Wie kann diese wechselseitige Abhängigkeit in balancierte Kräfteverhältnisse überführt werden? Wenn sich die beiden nicht in Souveränität, aber in Art des Handelns unterscheiden würden. Wie könnten sich Häuser und die Akteur*innen begegnen, wenn sie gleich stark wären, nur eben andere Dinge im Angebot hätten? Dazu gehört sicher eine konkrete Umverteilung finanzieller Ressourcen zum Beispiel durch mehr Stipendien und langfristige Förderung, aber auch: Ein Switch im Kopf. Einrichtungen könnten sich mehr im Gefühl der Abhängigkeit von Künstler*innen und Akteur*innen üben. Und die wiederum könnten den geronnenen Verhältnisse von Bitten und Danken ins Auge sehen.
Wie können die Einrichtungen zu Allmenden werden, gestalteten Ressourcenspins? Könnten sich die Kulturbetriebe vielleicht kollektivieren oder ganz andere Modelle von Leitung und Übergabe(n) etablieren? Traumtanz zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und sicher nicht mit dem Ziel, widerspruchsfrei zu sein.
Jochen Molck
zakk Düsseldorf
Gehen wir mal davon aus, dass die Corona-Krise vorhandene Stärken und Schwächen stärker heraus gearbeitet hat und bereits vorhandene Entwicklungen einfach beschleunigt.
Daraus ließe sich schlussfolgern: Je institutioneller Einrichtungen aufgestellt waren, je besser vernetzt und durch Verbände in der Politik vertreten, umso besser kommen diese Zentren und Häuser durch die Krise. Bei allen Problemen im Einzelfall konnten die soziokulturellen Zentren in NRW ihre Stärken, also Flexibilität, Vielfalt und lokale Vernetzung ausspielen und sind bislang ohne Totalverluste durch Corona gekommen.
Für die freien Theatergruppen, Kulturinitiativen, Künstler*innen-Kollektive kann ich es nicht beurteilen, ich hoffe sie haben es auch geschafft, aber die Erfahrung lehrt, dass mancher Tod eher leise gestorben wird.
Wie sollten sich die Kultureinrichtungen der freien Szene für die Zukunft aufstellen? Für mich ergeben sich drei Schlussfolgerungen:
- Mehr Flexibilität ist nötig, denn wir wissen nicht, wie die nächste Krise aussehen wird.
- Räume anders denken, Ressourcen teilen und gemeinsam nutzen, digitale Räume grundsätzlich mitdenken
- Etwas tun, sich in gesellschaftliche Verhältnisse einmischen, es gibt immer Alternativen, wir können sie aufzeigen
Politisch halte ich für wichtig:
- Weg von der projektorientierten Förderung und hin zu Förderkonzepten, die zumindest eine gewisse Planungssicherheit und Nachhaltigkeit ermöglichen
- Förderinstrumente, die Changeprozesse unterstützen und befördern
- Kollaboration auf Augenhöhe fördern, gemeinsame Ressourcen schaffen.
- Kollegiale Beratung, spartenübergreifende Unterstützung organisieren, um einer besseren Zusammenarbeit ein stärkeres Fundament zu geben.
- Übergeordnete / dezentrale Kompetenzzentren für große gesellschaftliche Aufgaben wie Digitalität / Diversität
Die Frage ist nicht Stand- oder Spielbein, sondern Spiel- und Strandbeine besser gemeinsam zu organisieren.
Definition der „Freien Szene“
Kulturrat NRW
Die „Freie Szene“ ist die Gesamtheit aller in NRW frei produzierenden Künstler*innen, Ensembles, Einrichtungen und Strukturen in freier Trägerschaft aus allen Bereichen, einschließlich Architektur, Bildende Kunst, Tanz, Schauspiel, Performance, Neue Medien, Musik von Barock, Elektro, Jazz, Pop, Klassik bis zur Neuen Musik, Musiktheater, Kinder- und Jugendtheater, Soziokultur, Literatur sowie spartenübergreifender und transdisziplinärer Formate.
Künstler*innen der Freien Szene arbeiten inhaltlich, methodisch und strukturell unabhängig, selbstbestimmt und selbstorganisiert. Sie arbeiten nicht vornehmlich marktorientiert oder kommerziell und sind in der Regel nicht in festen Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Sie sind eigenständig gegenüber institutionellen und kommunalen Einrichtungen. Ihre Kunst entsteht oft an wechselnden Orten und in unterschiedlichen Konstellationen. Und ihre Kunst entsteht frei von wirtschaftlichen Verwertungszwängen sowie frei von inhaltlichen und strukturellen Vorgaben. Die Freie Szene entspricht damit in einzigartiger Weise dem Anspruch auf kulturelle und gesellschaftliche Vielfalt und wirkt mit ihrem kreativen Potenzial nachhaltig hinein in alle Bereiche des kulturellen Lebens in NRW. Die vielfältige, kreative und professionell tätige Freie Szene ist gemeinsam mit den Kulturinstitutionen prägend für die Kulturlandschaft in NRW.