4. Kulturakteur*innen zwischen Förderung, Markt und Sozialpolitik
Im Nachgang der ersten Konferenz vom 5. Mai 2021 bildete sich eine Arbeitsgruppe, die für das o.g. Thema Handlungsempfehlungen erarbeitete und formulierte. Diese können Sie unter folgendem Link lesen:
Handlungsempfehlung der Arbeitsgruppe “Kulturakteur*innen”
Alle Texte und Materialien zur Digitalkonferenz vom 5. Mai 2021 finden Sie ab hier:
Nachdem sich in der Corona-Krise der „Vereinfachte Zugang“ zur Grundsicherung für viele Kulturschaffende als ungeeignete soziale Maßnahme zur Absicherung künstlerischen Arbeitens erwies (teilweise auch aufgrund mangelnder Kenntnisse über die künstlerischen Berufsbilder seitens der Jobcenter) und die Wirtschaftshilfen mit der Anerkennung von Lebenshaltungskosten als förderfähige Ausgabe große Probleme hatten, haben in Nordrhein-Westfalen 14.500 Stipendien Künstlerinnen und Künstler in der zweiten Jahreshälfte am Leben und in Produktion gehalten. Diese ebenso soziale wie kulturfördernde Maßnahme gibt der grundsätzlichen Frage der Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern neue Schubkraft: Was brauchen die Künstler*innen? Immerhin entstand 2020 eine ‚verlorene Generation‘ von Absolvent*innen künstlerischer/kultureller Studiengänge, die im Arbeitsmarkt Corona-bedingt nicht unterkommen.
Die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen zumindest für Künstler hat sich bislang als politisch wenig hilfreich erwiesen. Die erforderlichen Ressourcen sollten, wenn sie überhaupt zur Verfügung ständen, gezielter eingesetzt werden. Kann man die Künstlersozialkasse um eine Art Arbeitslosenversicherung oder eine dem Kurzarbeitergeld vergleichbare Leistung ergänzen? Sollte man aus den Erfahrungen des NRW-Stipendienprogramms einen generellen Neuansatz der individuellen Künstlerförderung ableiten? Bedarf es einer Neujustierung zwischen Förderung der künstlerischen Produktion und sozialer Unterstützung? Gibt es spezielle Bedarfe in Altersgruppen? Wie kann eine Unterstützung von Solo-Selbständigen im Kulturbereich aussehen, die nicht künstlerisch tätig sind. Die Zielsetzung in diesem Zusammenhang wären Kunstproduktion und -präsentation.
Wie sieht es dabei mit den Förderrichtlinien des Landes aus? Was passiert mit der Kulturförderung, wenn die Eigenanteile der Geförderten wegbrechen? Wie können die vielfältigen Erfahrungen aus 2020, inkl. die tendenzielle Untauglichkeit der Fixierung auf das Haushaltsjahr („Jährlichkeitsprinzip“), in die Landes-Förderrichtlinien Eingang finden? Das Kulturgesetzbuch für NRW sollte hier Vorgaben machen, Ziele formulieren und Wege zu deren Erreichung formulieren.
Thesen
- Fragen der Kulturförderung sollten generell von der Perspektive der Künstlerinnen und Künstler ausgehen, aber unbedingt auch Vermittlungsformen einbeziehen.
- Die Absicherung der Soloselbständigen ist generell unzureichend und muss systemisch verbessert werden.
- Das Kulturgesetzbuch für NRW muss für die Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern Ziele und Wege zu deren Erreichung formulieren.
- Die bewährten Stipendienprogramme aus der Corona-Krise sollten zu einer systematischen Graduiertenförderung im Bereich von Kunst und Kultur weiterentwickelt werden.
Vera Brüggemann
Vertretung des Vereins Artists Unlimited (AU), eines seit 36 Jahren bestehenden selbstverwalteten Künstlerhauses in Bielefeld
AU wurde im Jahre 1985 von Studierenden des Fachbereichs Gestaltung der FH Bielefeld gegründet mit dem Ziel, gemeinsam bezahlbaren Arbeits- und Lebensraum zu erwirken. Die Stadt stellte der Gruppe eine stillgelegte Fabrik zu einer vergleichsweise niedrigen Miete zur Verfügung, verbunden mit der Auflage, die Räumlichkeiten in Eigenarbeit in Wohn- und Arbeitsräume umzuwandeln. Das Haus wurde schnell zu einem wichtigen unabhängigen Kunst-Ort der Stadt entwickelt. Wir unterhalten eine Galerie, in der wir regelmäßig nationale und internationale KünstlerInnen ausstellen. Zudem vergeben wir dreimal im Jahr ein von uns finanziertes Gastkünstlerstipendium. Die niedrige Miete ist die einzige Förderung, die wir dauerhaft von der Stadt erhalten.
Aktuell leben und arbeiten 28 KünstlerInnen im Alter von 21–65 Jahren aus allen Sparten der bildenden Kunst im Haus, außerdem fünf Kinder in ihren jeweiligen Familien.
Für den Vortrag wurden die Mitglieder nach ihrer Arbeits- und Lebenssituation befragt, nach Einkommen, Finanzierung, Vorsorge, Sicherheitsgefühl, Zufriedenheit. Was brauchen wir zum Arbeiten und Leben? Was passt bereits, was fehlt?
Das Ergebnis zeigt Einkommen, die überwiegend an der Armutsgrenze liegen. Private Altersvorsorge ist zumeist nicht möglich, dennoch ist die Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation hoch. Vorbehalte gegenüber Förderprogrammen mit inhaltlichen Vorgaben oder festgelegten Zielsetzungen sind verbreitet. Auf die Frage: Was fehlt? wird bei der Mehrheit nicht in erster Linie Geld genannt. Bürokratie, fehlendes Vertrauen, fehlende Wahrnehmung und Wertschätzung unserer Arbeit werden als Mängel formuliert.
Der Skandal, dass alle AkteurInnen des Kunstbetriebs für ihre Arbeit bezahlt werden, außer denen, die die Kunst machen, wird von den meisten angesprochen.
Prof. Dr. Dieter Haselbach
Zentrum für Kulturforschung GmbH
- Der Markt für Kulturakteur:innen ist invers strukturiert. Aufschläge für Risiken und soziale Kosten selbständiger Arbeit sind am Markt nicht durchsetzbar. Die meisten Selbständigen erzielen deutlich weniger Einkommen als Arbeitnehmer:innen mit vergleichbaren Aufgaben in geförderten Institutionen. Grund hierfür ist ein strukturelles Überangebot am Arbeitsmarkt.
- Gegen die strukturelle Situation hilft Förderung nicht. Ein von ihr ausgehendes Marktsignal würde das strukturelle Überangebot potentiell noch erhöhen.
- Berufsfreiheit ist ein hoher Wert unserer Gesellschaft. Es gibt aber keine gesellschaftliche Pflicht, private Lebensentwürfe zu fördern.
- Die soziale Teilhabe von Selbständigen mit geringem Einkommen ist in Deutschland nicht hinreichend geregelt. Die Corona-Pandemie hat solche Schwächen unübersehbar offengelegt. Dieses Problem ist nicht kulturspezifisch.
- Helfen würden folgende politische Maßnahmen:
a) die Einführung einer Bürgerversicherung, also die Ausweitung der Sozialversicherungs-pflicht auf Selbständige (die KSK als Nischenförderung kann in bei Einführung eines solchen Systems aufgegeben werden).
b) die Schaffung einer weicheren Grenze zwischen Grundsicherung und selbständiger Arbeit.